Der Countdown läuft

Hallo liebe Leser,
Mit Schrecken ist mir gerade aufgefallen, dass mein letzter Post schon wieder mehr als sieben Wochen her ist… und auch wenn ich zuerst der Meinung war, dass in dieser Zeit sowieso nicht besonders viel passiert ist, sind mir doch mittlerweile ein paar Dinge eingefallen, die ich erlebt habe und die ich jetzt für euch aufs (digitale) Papier bringen will.

Seit Anfang Juni – mit dem Anbruch meines letzten Arbeitsmonats – hat sich in meinem Kopf eine Uhr breitgemacht, die unaufhörlich tickt: 52, 51, 50… meine Tage in Bolivien sind gezählt und mehr noch meine Tage in Tarabuco: Am 1. Juli ist nämlich der letzte Schultag vor den Winterferien und somit auch mein letzter Arbeitstag, danach geht es nochmal auf Reisen. Meistens kann ich diesen Countdown noch ganz gut ausblenden, doch manchmal überkommt mich die schiere Panik, zum Beispiel wenn mir beim Unterrichten in meiner Lieblingsklasse auffällt, dass ich nur noch drei Stunden mit ihnen haben werde, oder wenn wir uns Gedanken machen, was wir unseren Schulen oder unserer Gastfamilie als Erinnerung an uns hinterlassen wollen.

Natürlich gibt es auch (ab und zu) Momente, in denen ich mich ziemlich auf Deutschland freue: Nicht mehr andauernd Magenprobleme (hoffentlich), keine Flöhe mehr im Bett und – momentan ein häufiger Gedanke – der deutsche Sommer. Denn in Tarabuco ist es kalt geworden, sehr kalt. Aus dem Haus wage ich mich meistens nur mit mindestens fünf Schichten und dickem Schal und drinnen verbringen wir alle ziemlich viel Zeit im Bett oder mindestens in unsere Decken eingewickelt. Die Sonne hat zwar nicht viel von ihrer Kraft verloren, ihre Wirkung wird aber durch Schleierwolken oder einen stechend kalten Wind eindeutig vermindert.

Das ganze hielt uns aber trotzdem nicht davon ab, mit zwei Freundinnen aus Sopachuy endlich mal etwas zu machen, das wir uns seit unserer Ankunft hier vorgenommen hatten: Den Q’ara Q’ara zu besteigen, den wir meistens „Tarabuco-Berg“ nennen, weil er eben Tarabuco überragt und außerdem oben aus weißen Steinen der riesige Schriftzug Bienvenidos a Tarabuco steht. Nach einer schönen Wanderung auf dem Gipfel angekommen, befanden wir uns dann auf circa 3790 Metern, also noch einmal knapp 500m höher als Tarabuco und auf dem höchsten Gipfel in der näheren Umgebung – eine großartige Aussicht. Sogar das sechzig Kilometer im Nordwesten liegende Sucre konnten wir in der Ferne glitzern sehen.

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auf dem Weg

Auch an den anderen Wochenenden saßen wir nicht nur faul zuhause rum. Zwei verlängerte Wochenenden nutzten wir, um mehr von unserem diesjährigen Heimatland zu sehen. Anfang Mai hatten wir aufgrund des 1. Mais einen Tag länger Zeit, um uns Tarija im Süden Boliviens anzugucken. Zwar war der 1. Mai an einem Sonntag, aber sonntags hat man ja sowieso frei, und wir wären nicht in Bolivien, wenn sie einen Feiertag verfallen lassen würden. Der Tag der Arbeit wurde also auf den 2. Mai, den Montag verschoben.
Tarija ist eine recht kleine Stadt mitten im höchstgelegenen Weinanbaugebiet der Welt auf 1850m. Genau dieses guckten wir uns auch auf einer kleinen „Weintour“ an – mit einem Bus fuhren wir zu verschiedenen Weinkellern, schauten uns den Herstellungsprozess an und durften auch den einen oder anderen Tropfen probieren.
Auch das kleine Dorf San Jacinto nahe bei Tarija war wunderbar zum Erholen; wir genossen das warme Wetter am Ufer eines großen Sees.

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Weinkeller

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See bei San Jacinto

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Umgebung Tarijas

Unser nächster Ausflug führte uns am verlängerten Wochenende von Fronleichnam nach Samaipata, ein Dorf nahe Santa Cruz, gelegen mitten im sogenannten „Wolkenwald“, der uns in den drei Tagen, die wir dort verbrachten, anscheinend unbedingt zeigen wollte, warum er diesen Namen verdient: Es war durchgängig nebelig. Besonders viel von der Umgebung haben wir also nicht gesehen, konnten aber immerhin erahnen, dass die Berge – die letzten Ausläufer der Anden – grün und dicht bewachsen sind. Ein Highlight in Samaipata ist das Weltkulturerbe „El Fuerte“, wo man Inkaruinen neben Überresten eines spanischen Hauses und in den Stein geschnitzten Bildern aus der Zeit vor den Inka sehen kann. Naja, oder auch nicht… Aufgrund des Nebels konnten wir viele der auf den Infotafeln beschriebenen Bilder nur erahnen oder auch überhaupt nicht erkennen. Trotzdem ein interessanter Ausflug! Außerdem schauten wir uns in Samaipata noch eine Tieraufzuchtstation mit sehr niedlichen Affen und bunten Vögeln an, und machten eine sehr schöne Wanderung in der Umgebung.

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Ein Affe macht es sich auf meiner Schulter bequem

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Wolkenwald

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Ruinen einiger Inkahaeuser

Sonst ging der Alltag ganz normal weiter, „überraschenderweise“ unterbrochen von ein paar Feiertagen. So war am 25. Mai zum Beispiel Día de Chuquisaca, Tag des departamentos (etwas wie Bundesland), in dem sich Tarabuco befindet. Gefeiert wurde der „erste Ruf der Freiheit“ – in Sucre begann der Unabhängigkeitskampf Südamerikas. Mit dem Marschieren über die Plaza von allen Schülern, Lehrern und Mitarbeitern des Bürgermeisteramtes zelebrierte Tarabuco diesen Tag; und auch am Abend vorher durften wir schon einmal zu Marschmusik über den Platz laufen – mit rot-weißen Laternen (die Farben Chuquisacas).

Ein anderer Festtag war am 6. Juni der Día del maestro, Tag des Lehrers. Natürlich fand dort kein Unterricht statt, wir Lehrer wurden stattdessen mit weißem Konfetti beworfen, bekamen kleine Geschenke und außerdem eine Tanzvorführung der Schüler: Sehr niedliche Sechstklässlerinnen, die in traditionellen Cholita-Klamotten zu bolivianischer Musik kaum ihre Beine bewegten und sich die ganze Zeit peinlich berührte Blicke zuwarfen oder Fünftklässler, die zu südamerikanischer Chart-Musik versuchten besonders cool auszusehen – amüsant war es auf jeden Fall. Als Abschluss gab es dann ein von den Eltern und der Verwaltung Tarabucos gesponsertes Essen für alle Kollegen – typisch bolivianisch mit vielen Pommes, viel Fleisch, viel Majonäse und wenig gesunden Bestandteilen.

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Zu Feierlichkeiten wird einem hier oft eine ganze Menge weisses Konfetti auf den Kopf geworfen…

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tanzende Schueler

Abgesehen davon vergehen meine Tage, Wochen, Monate hier im gewohnten Rhythmus. Montags und mittwochs bin ich an der Außenschule, sonst hier in Tarabuco, und am Wochenende unternehmen wir oft etwas. Die einzige Veränderung ist der Winterstundenplan, der mittlerweile in Kraft getreten ist: Die Schule fängt eine halbe Stunde später an, Pausen und Doppelstunden werden jeweils um 10 Minuten gekürzt, sodass auch wieder früher Schluss ist. Dass es morgens mittlerweile kalt und dunkel ist, und der Anfang nach hinten verschoben wird (hier gibt es ja immerhin keine Zeitumstellung), ja, das finde ich noch einigermaßen verständlich. Aber warum früher Schluss sein muss, wo es doch um 14 Uhr auch nicht kälter oder dunkler ist als eine halbe Stunde davor, das soll mal einer verstehen…

Trotz des gewohnten Trotts wird es mir aber nicht langweilig. Ich freu mich immer wieder über meine Kinder, auch wenn es zugegebenermaßen ein paar Klassen gibt, auf die ich weniger Lust habe als auf andere. Das Spielen in den Pausen macht mir total Spaß und ich werde auch immer besser in Spielen wie „a la liga“, einem Spiel, bei dem man in verschiedenen Schwierigkeitsstufen über ein gespanntes Seil hüpfen muss. Das Hüpfen ist an sich gar nicht das Problem, immerhin habe ich ja deutlich längere Beine als die Mädels, schwierig wird es eher, wenn ich mir die Reihenfolgen der Sprünge merken muss. Sonst wird auch oft Fußball oder Fangen gespielt, und meinen Schülern in Jumbate habe ich jetzt außerdem Mau Mau beigebracht, was sie mit Begeisterung spielen: „Leihst du uns in der Pause deine Spielkarten?“ schallt mir entgegen, sobald ich den Schulhof betrete. Auch mein Fahrrad wird dort gerne ausgeliehen und die Versuche der kleinen Acht- oder Neunjährigen auf dem viel zu großen Fahrrad zu fahren sind immer wieder ein Grund zum Lachen (und Sorgen machen) für mich.

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Karten spielen beim Fruehstueck

Die Themen im Unterricht bleiben die gleichen: Tiere, Farben, Zahlen, Essen… nur den wenigsten, fähigsten Klassen habe ich bis jetzt auch zugetraut, Sätze zu bilden. Einen lustigen Moment hatte ich in meiner 4A, als wir das neue Thema „Sachen im Klassenraum“ angefangen haben: Ich fragte, was für Dinge es denn eben dort gibt, und anstelle der typischen Antworten –Tisch, Stuhl, Tafel – die ich in allen anderen Klassen bekomme, kam als erstes „esqueleto“ – Skelett. Nach einiger Verwirrung meinerseits entdeckte ich schließlich das neue Modell eines Skeletts für den Biounterricht an ihrer Wand… und obwohl ich den Schülern schließlich erklärte, dass ich eher andere Wörter angedacht hatte, ließen sie nicht locker, bis sie auch esqueleto – skeleton in ihr Heft schreiben durften.

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Öfters kommen auch nachmittags Schüler aus den höheren Klassenstufen bei uns zuhause vorbei, um sich Englisch-Nachhilfe geben zu lassen, und ich merke immer wieder, dass ihre Kenntnisse der Sprache und der Stoff in ihren Büchern in absolut keinem Verhältnis stehen: Bei einem Zehntklässler hat man zum Beispiel Glück, wenn sie sich auf Englisch vorstellen und einen Satz im simple present bilden können. Die Texte, bei denen wir ihnen helfen sollen, handeln dagegen von wissenschaftlichen Themen und sind selbst für mich teilweise schwierig zu verstehen. Aus einem Meer von Wörtern wie elaborate, comprehensive oder nuclear weapon fischen die Schüler dann and, the und is, die sie mir stolz übersetzen. Passt zu dem Land, in dem Grundschullehrer verpflichtet sind, ihren Schülern ab der ersten Klasse Englisch beizubringen, auch wenn keiner von ihnen mehr als ein paar Worte kann.

Aber das ist eine der vielen Eigenheiten Boliviens, die ich in diesem Jahr kennen und (teilweise) lieben gelernt habe… An ein paar Dinge würde ich mich nie gewöhnen können, zum Beispiel an die Einstellung zum Müll – man kann in Bussen Schilder finden: Bitte den Müll nicht auf den Boden, sondern aus dem Fenster werfen – und das sieht man auch. Andere Sachen werde ich in Deutschland total vermissen, so die unglaubliche entspannte Haltung allen Dingen gegenüber: Wenn man mal zu spät kommt, dann ist das eben so. Wenn gerade kein Bus nach Sucre fährt, dann fährt man eben in einem Auto mit. Und wenn man zu sechst unterwegs ist, und sich keine zwei Taxis nehmen will, dann setzen sich eben zwei Leute in den Kofferraum. In Deutschland unvorstellbar, in Bolivien komplett normal.

Das klang jetzt fast schon wie ein Fazit über mein Jahr, aber noch ist es ja gar nicht vorbei. Drei hoffentlich tolle Wochen liegen noch in Tarabuco vor mir, und dann freue ich mich aufs Wandern und den Regenwald.

Liebe Grüße,
Mareile

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